Offener Brief/Petition (Archiv)

Keine Einschränkung der Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit aus Rücksicht auf religiöse Borniertheit! Für ein klares Bekenntnis zu den Werten von Humanismus und Aufklärung!


"Eine Menschheit, die das Atom spalten kann und über Satelliten kommuniziert, muss die dafür erforderliche Reife besitzen. Dass sich bestimmte Personen oder Personengruppen durch das Aufstellen "heiliger" (d. h. unantastbarer) Spielregeln jeglichem kritischen Zugriff entziehen und dadurch eigene Denkfehler als verbindlich in die Zukunft fortschreiben, kann und darf in einer modernen Gesellschaft keine akzeptable Praxis mehr sein…"
(Manifest des evolutionären Humanismus)


Als Reaktion auf die weltweiten Proteste, die durch die zwölf Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung "Jyllands Posten" ausgelöst wurden, hat sich die Arabische Liga mit einem offenen Zensurwunsch an die Vereinten Nationen gewandt. Das UN-Parlament solle einen Beschluss fassen, der "beleidigende Angriffe gegen religiöse Überzeugungen" verbiete. Auch wenn die meisten westlichen Politiker in ihren Stellungnahmen das hohe Gut der Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit würdigten, bemühten sie sich doch, im gleichen Atemzug ihr tiefes Verständnis für die "verletzten religiösen Gefühle" und ihre Abscheu gegenüber den vermeintlich "geschmacklosen" Mohammed-Karikaturen (die in Wirklichkeit weit harmloser waren als beispielsweise Monty Pythons "Das Leben des Brian"!) zu demonstrieren. Auch auf diese subtile Weise können fundamentale Freiheitsrechte auf dem Altar der Diplomatie geopfert werden.

Der gegenwärtige Skandal kommt einigen zensurwilligen Politikern in Deutschland (aber auch in anderen westlichen Ländern) sehr gelegen. Seit vielen Jahren schon versuchen Teile der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit Rückenwind der Kirchen, den sog. "Gotteslästerungsparagraphen" 166 des Strafgesetzbuches zu verschärfen. Zwar scheiterten bislang noch sämtliche christlichen Versuche, die "freche Kritik an der Religion" gänzlich zu verbieten, aber dank der tätigen Unterstützung islamischer Fundamentalisten könnte dieser Anschlag auf die bürgerlichen Freiheiten in absehbarer Zeit nun doch gelingen. (Hieran erkennt man übrigens, dass die entscheidenden Fronten im "Kampf der Kulturen" nicht zwischen islamischer und christlicher Welt verlaufen, sondern zwischen den "Vertretern von Humanismus und Aufklärung" einerseits und den diversen "Feinden der offenen Gesellschaft" andererseits!)

Was heute Not tut, ist ein klares Bekenntnis zu den Werten von Humanismus und Aufklärung. Es sollte einsichtig sein, dass wir unter den Bedingungen einer hoch technisierten Welt auf das "aufklärerische Ärgernis der Kritik" angewiesen sind. Deshalb ist Vorsicht geboten, wenn allzu große Rücksicht auf "religiöse Gefühle" verlangt wird. Der Verweis auf "verletzte religiöse Gefühle" dient den religiösen Kräften nämlich in erster Linie dazu, die eigene weltanschauliche Engstirnigkeit unter "Denkmalschutz" zu stellen! Die Konsequenzen solcher Kritikimmunität sind katastrophal: Wer sich mit "heiliger Empörung" gegen jede Kritik sperren kann, wird kaum die Fähigkeit entwickeln, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen.

Wir müssen es daher allen Gläubigen – nicht nur den Muslimen! – abverlangen, dass sie sich mit der Kritik an ihrem Glauben auseinandersetzen. Dem frischen Wind der Kritik darf sich niemand entziehen, auch dann nicht, wenn die Kritik die Absurdität und Lächerlichkeit der eigenen Überzeugungen zu Tage fördert. Zugegeben: Man hört es nicht gerne und es ist auch im höchsten Maße "political incorrect", aber bei Licht betrachtet, lässt sich kaum von der Hand weisen, dass ein Großteil dessen, was Menschen glauben, im höchsten Maße lächerlich ist. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die Kritik an der Religion häufig im Gewand der Satire auftritt. Anders würde sie ihrem Gegenstand kaum gerecht werden. Man mag dies begrüßen oder bedauern, fest steht aber: Ohne die Kraft des aufklärerischen Spottes hätte auch das europäische Christentum nicht gezähmt werden können. Erst als die Menschen begannen, über die halsbrecherischen intellektuellen Verrenkungen des Christentums und die menschlich-allzumenschlichen Schwächen ihrer religiösen Führer zu lachen, konnten sie die über Jahrhunderte antrainierten Ängste vor Hölle und Teufel überwinden und dem religiösen Missionseifer eine deutliche Absage erteilen.

Fazit: Hätten die Aufklärer der Vergangenheit nicht den Mut aufgebracht, religiöse Gefühle zu verletzen, würden in Europa die Scheiterhaufen wohl heute noch brennen. Angesichts der sehr realen Gefahr, dass wir möglicherweise auf ein Zeitalter der Religionskriege zusteuern, brauchen wir deshalb in der gegenwärtigen Situation nicht weniger, sondern weit mehr religionskritische Stimmen in der öffentlichen Debatte. Die Zeiten, in denen weltanschauliche Offenheit religiösem Offenbarungswahn geopfert wurde, sollten endgültig vorbei sein!


Wir fordern:

• Alle Versuche, die Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit einzuschränken, müssen sofort eingestellt werden! Konkret: §166 StGB darf nicht verschärft, sondern sollte ersatzlos gestrichen werden! Die Religionen dürfen vom Gesetzgeber keineswegs den Freibrief erhalten, sich gegen Kritik zu immunisieren. Wer Zensur erlaubt, will Denken verbieten!

• Auf internationaler Ebene muss entschieden dafür gekämpft werden, dass die gängige Praxis, Religionskritiker zu inhaftieren, zu foltern, zu ermorden, in aller schärfster Form geächtet wird und empfindliche Sanktionen nach sich zieht. Die Durchsetzung der Menschenrechte hat oberste Priorität. Sowohl religiöse Traditionen als auch ökonomische Interessen müssen sich dem unterordnen.

• Die Verantwortlichen in Medien und Politik müssen endlich vernünftige Bedingungen für eine offene Debatte über Religionen schaffen. Die Angst vor der "Verletzung religiöser Gefühle" hat bei vielen Medienvertretern "Scheren im Kopf" erzeugt. Konsequente Religionskritiker kommen nicht nur in islamischen Ländern, sondern auch in Westeuropa kaum zu Wort, viele religionskritische Stellungnahmen werden aufgrund vorauseilender Resignation bzw. Selbstzensur gar nicht erst veröffentlicht.

• Wer (wie "Jyllands Posten") fremde Religionen kritisiert, sollte dringend auch vor der eigenen Tür kehren! Wer von einer aufklärerischen Position heraus den Islam kritisiert, sollte in seiner Kritik die anderen Weltreligionen (insbesondere die artverwandten Religionen Judentum und Christentum) nicht aussparen. Die autoritätsfixierten, apokalyptischen Wahnvorstellungen, die den gegenwärtigen islamischen Fundamentalismus bestimmen, findet man in ähnlicher Ausprägung auch bei strenggläubigen Christen und Juden. Es erzeugt ein falsches Bild, wenn man das Übel allein bei den Muslimen sucht. (In diesem Sinne empfehlen wir "Jyllands Posten" sowie anderen einseitigen Islamkritikern die unten abgebildete Karikatur "Prähistorisches Museum", die im Auftrag der Giordano Bruno Stiftung erstellt wurde… Es ist übrigens nicht zu befürchten, dass irgendeine größere Zeitung diese Karikatur abdrucken wird…)

• Der weltweit boomende Fundamentalismus ist nicht zuletzt Ausdruck gravierender politischer, ökonomischer und sozialer Missstände in der Welt. Die westliche Politik sollte sich bemühen, diese Missstände zu beheben, statt die Prinzipien der Aufklärung auf dem Altar einer kurzsichtigen Diplomatie zu opfern. Letzteres wäre schon allein deshalb verfehlt, da Fundamentalisten dazu neigen, jedes Zugeständnis ihrer weltanschaulichen Gegner als Zeichen der Überlegenheit ihres eigenen Glaubenssystems zu interpretieren.

• All jene, die sich den Werten von Humanismus und Aufklärung verpflichtet fühlen, sollten den Mut aufbringen, öffentlich Farbe zu bekennen. Es ist an der Zeit, Klartext zu sprechen, gerade auch in Bezug auf Religion. Wir dürfen uns nicht länger davor drücken, in aller Deutlichkeit zu formulieren, wofür wir eintreten und wogegen wir uns wenden. Die Fortführung des Projekts der Aufklärung verlangt nicht nur kluge Köpfe, sondern auch die Fähigkeit zum aufrechten Gang…

Die Petition startete am 6. Februar 2006 und endete am 31. Dezember 2006. Sie wurde von mehreren tausend Personen unterschrieben (u.a. von vielen Künstlerinnen und Künstlern).

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Impressum:
Dr. Michael Schmidt-Salomon (V.i.S.d.P)
www.giordano-bruno-stiftung.de